Kisufa

Hilfe für Kinder aus suchtkranken Familien in Paderborn „Was, wenn Mama wieder trinkt?“

Westfälisches Volksblatt Paderborn vom 08.07. von Nina Bühner

PADERBORN (WV). Alkohol, Drogen, Spielsucht: Im Kreis Paderborn leben etwa 10.000 Kinder in suchtbelasteten Familien. Die Suchtkrankenhilfe der Caritas bietet gemeinsam mit der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche eine Gruppe für betroffene Kinder an.

„Stell dir vor, du zockst gerne und dürftest es aber nie wieder tun. Selbst dann nicht, wenn all deine Freunde auch zocken. Wie würdest du dich dann fühlen? Wie wäre dies für dich?“

Eine scheinbar simple Frage mit großer Wirkung. Denn es geht im Folgenden nicht um das bloße Spielen am Computer, sondern darum, Kindern im Alter von 7 bis 12 Jahren das Thema Suchterkrankung näherzubringen. Vor allen Dingen dann, wenn eines der Elternteile oder gar beide davon betroffen sind. Spielsucht, Alkohol, Drogen: Suchverhalten hat viele Gesichter. Und oftmals leiden nicht nur die Betroffenen unter ihrer Erkrankung, sondern auch ihre Angehörigen, insbesondere die Kinder.

Wie Dominik Neugebauer, Bereichsleiter und Leiter der Suchtkrankenhilfe des Caritasverbandes Paderborn, im Gespräch mit dieser Zeitung mitteilte, würden in ganz Deutschland knapp 3 Millionen Kinder in suchtbelasteten Familien leben. Allein 10.000 Kinder im Kreis Paderborn wachsen mit einem oder zwei suchtkranken Elternteilen auf, sagt er.

„Dies zeigt noch einmal die hohe Relevanz dieses Themas und auch unserer Gruppe. Sie ist ein Angebot für Kinder und fällt unter das freiwillige Beratungsangebot. Es wird von der Stadt und dem Kreis Paderborn zu 50 Prozent gefördert“, berichtet Neugebauer. Allerdings sei dieses Angebot auch ein Beispiel für Leistungen, die aufgrund der schwierigen Haushaltslage in Paderborn eventuell gekürzt werden könnten, fügt Neugebauer hinzu.

Eine Stimme verleihen

Aus seiner Sicht ist die Gruppe enorm wichtig, denn: Kinder leiden oft im Verborgenen, im Stillen unter der Situation. Der Satz „Ach wie gut, dass (k)einer weiß …“ als Slogan der 2005 gegründeten Gruppe für Kinder aus suchtbelasteten Familien – kurz Kisufa – hat hierbei eine unglaubliche Aussagekraft. Denn er spiegelt im Kern wider, worum es bei der Gruppe geht: Das Schweigen der Kinder zu brechen und ihnen die Chance zu geben, aus dem tabuisierten Raum hinauszutreten, um sich zu öffnen. Über das, was sie bewegt, zu sprechen und zu lernen, wie sie mit der Erkrankung in ihrer Familie besser umgehen können.

Die offene Gruppe trifft sich einmal in der Woche. Immer dienstags von 16 Uhr bis 17.30 Uhr. Die Kinder sind im Alter von 7 bis 12 Jahren, meist nehmen acht bis zehn Kinder an der Gruppe teil, die von ihren Eltern gebracht werden. Im Fokus stehe nicht nur die Suchterfahrung in den Familien, sondern vor allen Dingen auch sie selbst als Person.

„Uns ist es besonders wichtig, den Kindern zu mehr Resilienz zu verhelfen. Sie sollen hier lernen, dass sie sich selbst und ihrer eigenen Wahrnehmung vertrauen können. Und auch, dass sie nicht daran schuld sind, wenn Mama oder Papa beispielsweise heimlich Alkohol trinken oder Drogen konsumieren. Und vor allen Dingen sollen sie lernen, dass dies ein Raum ist, in dem sie alles, aber auch wirklich alles sagen dürfen“, erklärt Christine Isermann, die gemeinsam mit Brigitte Dierschke die Gruppe leitet. Sie selbst ist seit 2007 dabei.

Individuelles Schicksal

Und sie weiß, jedes Kind hat sein eigenes Schicksal: Da ist das kleine Mädchen, das kurz vor ihrer Kommunion steht und sobald sie an diesen Tag denkt, ein Gefühl der Angst in sich trägt. Angst davor, wie sie sich verhalten soll, wenn Mama an diesem für sie so besonderen Tag wieder beginnt zu trinken. Wenn alle Augen der Gäste am Tisch scheinbar auf ihrer Mutter verharren und jeder weiß, was nun wieder los ist.

Da ist der kleine 11-jährige Junge, der wütend und ärgerlich auf seine Mutter ist, weil sie immer wieder zur Flasche greift und nicht vom Alkohol loskommt. Oder das Mädchen, das vor der Spielothek auf ihren Vater wartet, der zwischenzeitlich nach seinem Kind sieht und sagt: „Ich komme gleich wieder“. Aus „gleich“ werden allerdings fünf Stunden.

Oder der Sohn, der weiß, wo Mama ihre Weinflaschen versteckt und so tut, als wüsste er es nicht. Aus Angst davor, Ärger zu bekommen. Entweder von Mama oder von Papa, der wieder ärgerlich wird, wenn seine Frau erneut zur Flasche greift. Christine Isermann und Dominik Neugebauer könnten noch so viele Einzelschicksale aufzählen und so vieles berichten.

Und so unterschiedlich jedes Kind und sein individuelles Schicksal auch sind, eines haben sie doch alle gemeinsam: In der Gruppe haben sie das Gefühl von Gemeinschaft. Die Kinder hätten das Gefühl: „Ich bin nicht allein, die anderen verstehen mich, ich darf darüber reden und ich darf hier auch gemeinsam mit anderen Kindern lachen und Spaß haben. Auch dann, wenn Zuhause oftmals alles so schwierig sein mag.“

Die Gruppe hat stets den gleichen Ablauf: Nach der Begrüßung gibt es einen Gesprächskreis. Hierbei sitzen die Kinder am Tisch oder auf dem Fußboden auf einem Kissen und berichten von der vergangenen Woche. Und hier übernehmen ein kleiner Pinsel und Bella, der Ballon, eine entscheidende Rolle. Je nach Stimmung dreht eines der Kinder entweder zum Beispiel die Seite von Bella mit dem lachenden oder mit dem traurigen Gesicht um und erzählt hierbei, wie es ihm ergangen ist. Und während es reihum geht, werden Apfelschorle getrunken und Kekse gegessen.

Notfallpläne

„Wir erstellen mit den Kindern auch sogenannte Notfallpläne und überlegen mit allen Kindern zusammen, was man in der entsprechenden Situation tun könne. Dies hat auch dem Mädchen bei ihrer Kommunion geholfen und ihre Befürchtungen bezüglich ihrer Mutter und der Gäste sind nicht eingetroffen. Die Kinder geben sich auch gegenseitig Tipps. Oft entstehen durch diese Gruppe auch Freundschaften untereinander, die über die Gruppe hinausgehen“, berichtet Isermann.

Die Kinder würden mindestens ein Jahr in der Gruppe bleiben, damit ihre Resilienz langfristig gestärkt werde. Doch der Kontakt bestehe oftmals sogar über die Zeit in der Gruppe hinaus. Nicht nur in den weiterführenden, beratenden Angeboten des Caritasverbands, sondern es komme auch vor, dass Kinder sich zurückerinnern und wiederkommen. Beispielsweise, wenn es einen Rückfall in der Familie gebe oder, wenn sie vor einer schwierigen Entscheidung stehen würden. „Ein Junge absolviert demnächst die Oberstufe und braucht an diesem entscheidenden Wendepunkt noch einmal Beratung. Auch hierbei hören wir zu“, berichtet Isermann.

Auch die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt sei sehr eng, insbesondere wenn es innerhalb von Familien zu gewaltbereitem Verhalten komme. Neben den Kindern werden auch ihre Eltern aufgefangen und es finden auch Gespräche mit ihnen statt. „Oft haben auch die Eltern Angst, ihrem Kind zu sagen, dass sie suchtkrank sind. Hierbei können wir ebenfalls eine Stütze sein“, sagt die Gruppenleiterin. Weitere Informationen zum Angebot der Gruppe Kisufa sind unter www.caritas-pb.de zu finden.